Herr Dr. Kloepfer, zu Beginn vielleicht ein Blick zurück: Wie lautet Ihr Resümee der vergangenen, doch recht bewegten Legislaturperiode?

Es ist überhaupt nicht von der Hand zu weisen, dass Jens Spahn unglaublich viel angestoßen hat. Das war auch von ihm zu erwarten, er ist ein Mann der Tat und – im Gegensatz zu allen Gesundheitsministern vorher, an die ich mich erinnern kann – brauchte er überhaupt keine Einarbeitungszeit. Das heißt, er konnte vom Stand weg anfangen und hat das auch getan. Und zwar auf eine Art und Weise, die man fast schon aktionistisch bezeichnen kann, bei der man auch sehen wird, dass manches nicht sauber ineinandergreift. Dann kam natürlich Corona: Da blieb Vieles liegen, und Vieles ist schwieriger geworden – das ist überhaupt gar keine Frage. Aber auch zur Coronazeit hat das Ministerium stets fleißig gearbeitet. Wenn ich jetzt rückblickend beantworten müsste "Was wird übrig bleiben?", dann wird es bei Jens Spahn in jedem Fall das Thema Digitalisierung sein. In diesem Bereich ist viel passiert. Angefangen bei der Übernahme der gematik durch das BMG mit 51 Prozent Anteilen bis hin zur elektronischen Patientenakte, verpflichtend für gesetzliche Krankenkassen, und den digitalen Gesundheitsanwendungen – das ist der Einstieg in die Digitalisierung, der auch nicht mehr rückgängig zu machen sein wird.

Was kommt auf den Nachfolger zu? Welche Baustellen hinterlässt Jens Spahn?

Das Thema Digitalisierung muss natürlich weiter vorangetrieben werden. Das ist noch kein Selbstläufer. Darauf wird eine kommende Gesundheitsministerin, ein kommender Gesundheitsminister aufbauen müssen. Eine zentrale Baustelle aber wird eine sein, die der Minister selbst geschaffen hat – nämlich das Thema Kosten. Jens Spahn war der teuerste Gesundheitsminister aller Zeiten, wie es auch immer wieder die Krankenkassen betonen. Er hat sich an der Front viele Dinge – auch viel Ruhe – durch großzügige Griffe in die Kasse erkauft. Auch da wieder teilweise populistisch mit dem problematischen Mantra: „Krankenkassen sind keine Sparkassen“.

Diese Kosten werden der neuen Gesundheitsministerin / dem neuen Gesundheitsminister auf die Füße fallen. Die Amtszeit wird damit beginnen, dass sich die Ministerin / der Minister Gedanken machen muss über die angespannte Finanzsituation in der gesetzlichen Krankenversicherung. Was letztendlich liegen geblieben ist – und da hat Corona eine Mitschuld, aber nach meinem Dafürhalten auch die dürftigen Vorgaben der Bund-Länder-Kommission –, ist das ganze Thema „sektorenübergreifende Versorgung“. Da hatte ich mir tatsächlich mehr erhofft in der vergangenen Legislaturperiode. Der Blick des Ministers war aber nicht in erster Linie darauf gerichtet.

Wenn wir die Zentralbaustelle beim Namen nennen, heißt sie „Systemumbau“. Dabei geht es um grundlegenden Umbau. Warum ist das aus Ihrer Sicht so wichtig?

Der Umbau ist deswegen wichtig, weil wir immer mehr chronische Patienten bekommen – und das ist eine gute Nachricht: Die chronischen Patienten sind nicht die Folge schlechter Ernährung, sondern Folge davon, dass der medizinisch-technische Fortschritt uns immer besser in die Lage versetzt, vorher tödliche Krankheiten in chronische Krankheiten umzuwandeln. Für mich das eindrücklichste Beispiel ist die AIDS- und HIV-Versorgung. Im Freundeskreis hatte ich in den 80- und 90er Jahren noch Tote zu beklagen, mittlerweile ist das eine chronische Erkrankung. Ganz zu schweigen von Diabetes, aber auch viele onkologische Erkrankungen sind heute chronische Erkrankungen.

Unser SGB V fußt jedoch auf einem Paradigma, das sich an der Akutversorgung orientiert, das hat historische Gründe. Und jetzt behandeln wir – im Grunde seit Ulla Schmidt – die Chronikerversorgung immer als Ausnahmeregelung (Disease-Management-Programme, § 116b, haushaltszentrierte Versorgung, integrierte Versorgung etc.) und tun so, als ob das die Ausnahme wäre, aber es ist mittlerweile längst die Regel. Und das SGB V hat diesen Versorgungsbedarf als die Regel bisher noch nicht erkannt.

Daraus leitet sich etwas anderes ab – und das wird in meiner Wahrnehmung immer dramatischer: Die Gesundheitsprofis selbst, also nicht nur Ärzte, sondern auch Gesundheitsfachberufe und vor allem die Pflege, merken immer mehr, dass wir falsch versorgen, und haben immer weniger Lust, in einem System zu arbeiten, was offensichtlich den medizinischen Anforderungen nicht gerecht wird. Genau diese Fachkräfte brechen uns weg, indem sie diese Berufe nicht mehr wählen.

Wir können so weitermachen, aber irgendwann wird uns das auf die Füße fallen, sodass sich ein Umbau des Systems ohnehin nicht vermeiden lässt. Daher plädiere ich dafür: lieber früh als spät! Jetzt ist allmählich der letzte Moment, umzusteuern, ohne dass es desaströs wird.

Das führt uns zu den Parteien und dem Wahlkampf 2021. Inzwischen haben alle Parteien ihre Positionspapiere veröffentlicht. Wie beurteilen Sie das vor diesem Hintergrund?

Diese grundlegende Frage ist in keinem der Papiere aufgegriffen. Das heißt, wir erwähnen natürlich das Thema sektorenübergreifende Versorgung – übrigens schon seit über 20 Jahren – in Wahlprogrammen. Aber warum das so wichtig ist und dass das SGB V selbst dafür sorgt, dass es nicht gelingt, kommt in keinem der Papiere vor. Was mittlerweile jedoch stärker beachtet wird, ist die regionale Versorgung. Das heißt, die Regionalität bzw. die regionale Kompetenz der Versorgungspartner, vielleicht auch der Kommunen, die am Ende ebenfalls dafür geradestehen, wird stärker beachtet. Angefangen von den Grünen, aber ebenso bei anderen Parteien. Das ist schon zu beobachten. Der grundlegende und notwendige Wechsel wird jedoch nicht thematisiert – vielleicht weil man das Gesundheitssystem nicht schlechtreden möchte. Wahlprogramme sind bekanntermaßen nicht alles, man darf die Hoffnung also nicht aufgeben, aber die Parteiprogramme selbst liefern in Bezug auf einen echten Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen im Moment nichts bis wenig.

Welcher künftige Minister bzw. welche Ministerin wird den Staffelstab übernehmen?

Sehr gute Frage! Prognosen sind ja immer dann schwierig, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. Natürlich kann man an dieser Stelle in die Glaskugel schauen, aber was man sich klarmachen muss, ist, dass das Gesundheitsministerium ein typisches „Resteministerium“ ist. Das will niemand haben. Natürlich müssen sich die Grünen jetzt profilieren im Bereich Umwelt und mit Frau Baerbock auch im Bereich Außenministerium. Selbstverständlich will eine Partei wie die FDP das Finanzministerium für sich beanspruchen. Es gibt also Kernministerien, die heiß begehrt sind, aber das Gesundheitswesen gehört klassisch nicht dazu, das bleibt am Ende übrig. Aus diesem Grund kann man hier keine Prognose abgeben, aber sehen, dass es in allen potenziell an der Regierung beteiligten Parteien profilierte Leute gibt, die sich gut im Gesundheitsministerium machen könnten. Meine Empfehlung ist, sich nicht nur auf Bundesebene umzuschauen, sondern auch auf Landesebene nach geeigneten Kandidaten zu suchen. Also nicht nur auf den Kreis der „üblichen Verdächtigen“ schauen, sondern durchaus einen Schritt weiterdenken – und da hat eigentlich jede Partei das ein oder andere kompetente Mitglied in petto.

Ein mögliches Szenario wäre aber auch, dass man Jens Spahn mit seinen horrenden Ausgaben konfrontiert, die er in der nächsten Legislaturperiode wieder einfahren müsste. In den letzten Wochen hatte er nicht gerade eine gute Presse. Aber er wird nicht von der Bildfläche verschwinden – ganz klar. Denkbar wäre also, dass er in seinem eigenen Ministerium wieder auftaucht. Das würde er mit Sicherheit als Degradierung empfinden, aber möglich wäre es. Prognosen gibt es somit keine, aber es gibt eine Reihe potenzieller Kandidaten in allen Parteien, die für das Amt in Frage kommen. Ob sie es gern machen und ob das in den ersten Monaten Spaß macht, würde ich erst einmal dahingestellt sein lassen. Die ersten Monate werden in jedem Fall von der Kostendiskussion bestimmt werden.

Dr. Kloepfer, vielen Dank für das Gespräch!

Über Dr. Albrecht Kloepfer

Dr. Albrecht Kloepfer, Publizist, Politikberater und gelernter Literaturwissenschaftler, unterstützt seit 2000 Unternehmen und Verbände aus allen Bereichen der Gesundheitswirtschaft als Moderator und strategischer Berater. Seit 2002 ist er Herausgeber der iX-Highlights (früher: „GesundheitsPolitischer Brief“), einem wöchentlichen Nachrichtenüberblick zur deutschen Gesundheitspolitik, sowie Leiter des Berliner „Büros für gesundheitspolitische Kommunikation“. 2014 gründete er das iX - Institut für Gesundheitssystem-Entwicklung , dessen Leitung er seitdem verantwortet.


iX-Radio: Gesundheitspolitik zum Hören

Viel Information im handlichen Podcast-Format – auch zum Mitnehmen im Auto, Zug oder Flieger

Zum Audio-Interview